Warum unser Bildungssystem kollabiert – und was wir dagegen tun müssen
In nicht einmal 14 Tagen sind Wahlen… und viele Diskussionen gehen an den drängendsten Problemen unseres Landes komplett vorbei.
Ob Wohnungsnot, schlechte Gesundheitsversorgung, fehlende Pflege, ein (absehbar) kollabierendes Rentensystem oder mangelnde Digitalisierung, all das wird von der großen (Schein)Debatte um Migration und Flucht verdrängt.
Und noch ein weiteres Thema, das mir besonders am Herzen liegt, findet nur am Rande Erwähnung. Ein Thema, das schon seit Jahrzehnten angeblich überragend wichtig ist, bei dem aber doch alle politischen Parteien teils katastrophal versagen: Bildung.
Bildung ist, das hören wir (zu Recht) immer wieder, der zentrale Faktor, mit dem unser Land in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben kann. Ob deutsche Ingenieurskunst, technische Innovationen „Made in Germany“, Teilhabe und Gleichberechtigung, kluges wirtschaftliches Handeln oder eine offene, prosperierende Demokratie, all das geht nur mit guter Bildung.
Und doch stehen wir vor geschlossenen und überlasteten Kitas, Schulen mit kaputten Klos, Stundenausfällen und lächerlichen Lehrer-Schüler-Betreuungsverhältnissen, einer maroden physischen und digitalen Infrastruktur und 16 Bundesländern, die nicht einmal bei zentralen Diensten und technischen Systemen zusammenarbeiten können. Wir sehen Eltern, die am Schulsystem verzweifeln, Kinder, die aussortiert werden und Lehrer, die an den Zuständen zerbrechen. Wir haben uns an den Ausnahmezustand gewöhnt und versuchen, diesen irgendwie erträglich zu machen. Und wenn Eltern das nicht können, sind die Kinder auf sich alleine gestellt und landen früher oder später in der Grundsicherung.
Bildung braucht in Deutschland einen kompletten Neustart.
Dabei lassen sich die zentralen Handlungsfelder m.E. in folgende Bereiche unterteilen:
Mehr Ressourcen für den Bildungssektor
Die Finanzierung des Bildungssektors ist nach wie vor unzureichend. Es besteht ein erheblicher Mangel an Lehrkräften und Erzieher:innen, die Infrastruktur vieler Schulen ist sanierungsbedürftig und die Digitalisierung kommt nur schleppend voran. Zudem fehlen staatliche Angebote für lebenslanges Lernen, wird die Unterstützung für Studierende immer weiter zurückgefahren (BAföG beziehen nur noch 11% der Studierenden) und Eltern finanziell immer mehr in die Pflicht genommen (z.B. für technische Geräte, Nachhilfe und Softwarelizenzen).
Frühkindliche Bildung als Priorität
Die ersten Jahre eines Kindes sind entscheidend für seinen späteren Bildungsweg und die Bildungsmobilität ist in Deutschland kaum mehr gegeben. Viele Kinder, die besonders von frühkindlicher Bildung profitieren würden, haben keinen Zugang zu Kita-Plätzen oder werden nicht angemeldet. Verbindliche Sprachtests und eine verpflichtende zweijährige Kindergartenzeit könnten diese Situation verbessern. Gleichzeitig ist eine funktionierende Kinderbetreuung essenziell für die Erwerbsbeteiligung von Eltern, insbesondere für Frauen.
Grundlegende Reform der Lehrpläne und Bewertungssysteme
Der Lehrstoff in Schulen wurde immer weiter ausgeweitet, ohne aktuelle und zukunftsrelevante Inhalte ausreichend zu integrieren. Informatik, Technik, Wirtschaft und politische Bildung müssen stärker in den Fokus rücken. Gleichzeitig sollten kreative Fächer wie Kunst, Musik und Sport mehr Raum zur individuellen Entfaltung bieten, anstatt sie mit Notendruck zu belegen. Wir brauchen neue Curricula und Formen des Lernens.
Mehr Schulautonomie und innovative Schulkonzepte
Eng damit verknüpft ist die Tatsache, dass Schulen in Deutschland unter strikten Vorgaben arbeiten, die wenig Raum für individuelle Konzepte lassen. Dabei zeigen Studien, dass Schulen mit mehr Autonomie erfolgreicher sind. Mehr Flexibilität bei Lehrmodellen, multiprofessionelle Teams aus Quereinsteigern, Sozialpädagogen und IT-Expert:innen könnten den Lehrermangel abfedern. Zudem müssen alternative Schulmodelle wie Gemeinschaftsschulen oder längere Eingangsphasen stärker forciert werden.
Reform der Hochschulen und Universitäten
Auch Hochschulen stehen vor grundlegenden strukturellen Problemen: Die Befristungspraxis im Mittelbau sorgt für Unsicherheiten, die Einwerbung von Forschungsgeldern ist mit hohem Aufwand und geringer Erfolgsquote verbunden, und die Lehre wird oft zugunsten der Forschung vernachlässigt. Gleichzeitig sind viele kleine Hochschulen durch den demografischen Wandel in ihrer Existent bedroht und müssten neue Studienformen anbieten.
Stärkung der Berufsbildung und Weiterbildung
Der Fachkräftemangel ist eine der größten Herausforderungen für Deutschland. Bis 2035 könnten rund 5 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Gleichzeitig blieben 2023 über 40.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Die berufliche Bildung muss attraktiver gestaltet und lebenslanges Lernen stärker gefördert werden, beispielsweise durch staatlich unterstützte Weiterbildungskonten oder eine engere Verzahnung mit akademischer Bildung. Der Erfolg privater Anbieter zeigt hier deutlich, dass ein riesiger Bedarf an Angeboten besteht.
Migration und Integration als Bildungsthema
Bildungseinrichtungen spielen eine zentrale Rolle bei der Integration von Geflüchteten und Migranten. Sie benötigen mehr Unterstützung, um Sprachförderung und kulturelle Eingliederung erfolgreich umzusetzen. Zudem müssen vorhandene Abschlüsse schneller anerkannt werden, damit qualifizierte Fachkräfte nicht unnötig lange auf eine berufliche Perspektive warten müssen. Für Schulen und Hochschulen gilt es, gezielte Programme für Nicht-Muttersprachler zu entwickeln, um ihnen einen besseren Bildungsweg zu ermöglichen. Dies wird bisher in keinster Weise ausreichend gefördert.
Bildung für die digitale und KI-getriebene Zukunft
Trotz einiger Fortschritte fehlt es in Deutschland an einer durchdachten Digitalisierungsstrategie im Bildungsbereich. Nur jede zweite Schule ist an ein Glasfasernetz angeschlossen, fast an keiner Schule gibt es professionelles Personal zur Pflege von Systemen und digitale Unterrichtskonzepte sind oft mangelhaft oder fehlen komplett. Kein Wunder, wenn diese Themen bei der Weiterbildung von Lehrern vielleicht 1-2 Tage im Jahr umfassen. Gleichzeitig wird künstliche Intelligenz den Bildungssektor revolutionieren. Und doch gibt es bislang kaum verbindliche Lehrpläne für KI-Kompetenzen, digitale Ethik oder Data Literacy. Deutschland muss hier international aufholen.
Mehr Kompetenzen für den Bund
Schließlich führt der Bildungsföderalismus zu ineffizienten Doppelstrukturen, Problemen bei Schulwechseln über Bundesländergrenzen hinweg und einem Mangel an standardisierten (technischen) Lösungen für den Schulbetrieb. Wichtige Innovationsprojekte wie die Digitalisierung oder der Einsatz von KI in Schulen stagnieren aufgrund unklarer Zuständigkeiten. Fragen zur Finanzierung der digitalen Infrastruktur werden hin und her geschoben und einheitliche Ansätze von den Landesfürsten ausgehebelt. Es braucht unbedingt eine stärkere Rolle des Bundes, um für mehr Einheitlichkeit und Effizienz zu sorgen.
Ob wir all das – oder wenigstens ein wenig - von der nächsten Regierung erwarten können? Ich wage es zu bezweifeln, zumindest, wenn ich mir die Wahlprogramme anschaue. Und noch mehr, wenn ich auf die Praxis und die handelnden Akteure in Bildungsministerien, KMK oder Schulämtern schaue.
Aber letztlich bleibt uns nur, täglich weitere darauf hinzuwirken, dass sich die Situation verbessert. Sich in Schulen einzubringen, Politiker:innen an ihre Verantwortung zu erinnern, Kinder zu stärken, Kindergärten zu fördern oder Bildungsprojekte zu finanzieren.
Denn ansonsten war es das, mit dem Wohlstand, mit Partizipation und (gesellschaftlichem wie wirtschaftlichem) Fortschritt. Und irgendwann vielleicht auch mit unserer Demokratie.